October 15, 2024

Spezialisierung im Bereich Künstliche Intelligenz – Generalist vs. Spezialist

In diesem Artikel sprechen wir über die Entwicklung von KI Rollen und wie die Grenzen zwischen Spezialist:innen und Generalist:innen zunehmend verschwimmen.

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Steht die Zukunft der künstlichen Intelligenz unter dem Zeichen der Spezialist:innen, oder werden Generalist:innen die Oberhand gewinnen? Diese Frage wirft nicht nur philosophische und technologische Überlegungen auf, sondern berührt auch fundamental die Planung und Strategie von Unternehmen weltweit. In Teil 1 “Die Evolution von Machine Learning-Positionen” belegen wir die stetige Spezialisierung in Machine Learning Berufen. Demnach muss doch die technologiegetriebene KI-Branche derselben Logik folgen – doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Höchst interessant in diesem Zuge ist das Buch “Range” und die Betrachtung des Autors David Epstein, welches unser bisheriges Weltbild über Spezialisierung und die auch 10.000 Stunden-Regel zerlegt (engl. 10.000 hours – allgemeine Daumenregel, um in einer Fähigkeit Meisterstatus zu erlangen). Auch wenn für einige KI-Bereiche sehr tiefes technisches Verständnis entscheidend ist, so stellt sich die Frage:
Wird diese Spezialisierung allein ausreichen, um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden? Tauchen wir nun in die Welt der KI ein, wo jede Antwort neue Fragen aufwirft und die Grenzen zwischen Spezialist:innen und Generalist:innen zunehmend verschwimmen. 

Fachwissen in der KI: Notwendigkeit und Nutzen

Die Notwendigkeit spezialisierter KI-Kenntnisse ist unbestreitbar und wächst stetig – darüber sprachen wir bereits im ersten Teil “Die Evolution von Machine Learning-Positionen”. In der weiteren Entwicklung sehen wir eine ähnliche Expansion und Spezialisierung in anderen Bereichen der Künstlichen Intelligenz. Folgende Bereiche werden verstärkt nach Spezialist:innen suchen:

KI in der personalisierten Medizin

In der Gesundheitsbranche erweitern KI-gestützte Diagnostiksysteme und robotergestützte Operationstechniken die Möglichkeiten der Patientenversorgung signifikant. Hochspezialisierte Anwendungen verbessern die Präzision und Effizienz medizinischer Eingriffe und Behandlungen, was zu besserer Patientenbetreuung und -sicherheit führt.

Ethische KI und Regulierung 

Mit der zunehmenden Verbreitung von KI-Technologien steigt vor allem die Notwendigkeit, ethische Überlegungen und Regulierungen zu berücksichtigen. Spezialist:innen werden gesucht, die KI-Anwendungen innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen entwickeln und implementieren können. Mit wachsender Intelligenz steigt gleichzeitig das Missvertrauen der Öffentlichkeit gegenüber der Technologie. Denn bereits heute weiß “Big Tech” nicht, was im Inneren der KI passiert.

Verstärkung menschlicher Rollen durch KI

Anstatt Jobs zu ersetzen, wird KI zunehmend dazu verwendet, menschliche Aufgaben zu ergänzen. In Bereichen wie Finanzen, Recht und Bildung automatisiert KI repetitive Aufgaben und ermöglicht es Fachleuten, sich auf komplexere Problemlösungen und Entscheidungsfindungen zu konzentrieren. Dieser Fakt ist auch gleichzeitig ein Pro-Argument für Generalist:innen.

Doch vor allem geht es bei spezialisierten KI-Rollen darum, tiefes technisches Verständnis mit branchenspezifischen Wissen zu verbinden. Diese Entwicklung sieht man auch bei SAP-Expert:innen, die sich auf bestimmte Branchen wie beispielsweise Automotive oder Gesundheitswesen spezialisieren. Diese Entwicklung ist anders als die Evolution der Machine-Learning-Positionen, bei der die Entwicklung der Technologie selbst für die Spezialisierung sorgt. Auf diesen Punkt gehen wir später nochmal genauer ein.

Die anhaltende Bedeutung von Generalist:innen in Unternehmen

Während die Spezialisierung in der KI zunimmt, behalten Generalist:innen trotzdem eine tragende Rolle in Unternehmen. Ihre breitgefächerten Skills und die Fähigkeit, verschiedene Disziplinen zu verbinden, sind in einer zunehmend komplexen Arbeitswelt gefordert. Hier die Gründe, warum diese Vielseitigkeit neben einer Spezialisierung im modernen Arbeitsleben von Vorteil ist.

Anpassungsfähigkeit und Vielseitigkeit

Generalist:innen zeichnen sich durch ihre Fähigkeit aus, sich schnell neuen Herausforderungen anzupassen und Informationen aus verschiedenen Bereichen zu integrieren. Diese Fähigkeiten sind besonders in "wicked environments" – also Umgebungen, die durch ständige Veränderungen und unklare Daten gekennzeichnet sind – von unschätzbarem Wert. Denn bekanntlich leben wir in einer VUCA-Welt (Akronym für engl. volatility, uncertainty, complexity, ambiguity). In solchen Situationen können Generalist:innen ihre vielseitigen Fähigkeiten nutzen, um innovative Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. 

Breites Wissen und Kreativität

In seinem Buch "Range" argumentiert David Epstein, dass in einer Welt, die zunehmend von technologischen Fortschritten und schnellen Veränderungen geprägt ist, Menschen mit einem breiten Wissensspektrum und der Fähigkeit, dieses Wissen kreativ anzuwenden, besonders erfolgreich sind. Generalist:innen, die in der Lage sind, ihr Wissen aus verschiedenen Bereichen zu kombinieren und neue Verbindungen herzustellen, sind oft die Innovatoren und Problemlöser, die Unternehmen vorantreiben. Epstein nimmt das Beispiel Roger Federer, der seinen Erfolg im Tennis auf eine Reihe von unterschiedlichen jugendlichen sportlichen Aktivitäten zurückführt.

Generalist vs. Specialist: Which Is Better?

Widerstandsfähigkeit gegenüber Automatisierung 

Wie der Artikel "The Future of Work in an AI-Driven World" beschreibt, sind viele spezialisierte Tätigkeiten, die innerhalb fester Regeln und wiederholbarer Muster operieren, anfällig für Automatisierung durch KI. Schach ist ein klassisches Beispiel im Bereich der künstlichen Intelligenz. Generalist:innen hingegen, die imstande sind, über diese Muster hinauszudenken und ihre Fähigkeiten flexibel einzusetzen, haben einen deutlichen Vorteil. Sie sind weniger leicht durch automatisierte Systeme zu ersetzen, da ihre Arbeit oft ein höheres Maß an Interpretation, kritischem Denken und Anpassungsfähigkeit erfordert.

Brückenbauer und Teamplayer

Ein älterer Forbes-Artikel zeigt weitere  Stärken von Generalist:innen am Beispiel von Elon Musk – die Fähigkeit, unterschiedliche Wissensbereiche zu verknüpfen und teamübergreifend zu arbeiten. Die Fähigkeit, als Bindeglied zwischen verschiedenen Teams und Disziplinen zu fungieren, macht Generalist:innen zu wertvollen Mitgliedern in jedem Unternehmen. Sie fördern die Kommunikation und Zusammenarbeit, die für die erfolgreiche Implementierung von KI-Systemen und -Strategien zentral sind.

Generalist:innen können komplexe Probleme aus verschiedenen Perspektiven betrachten und kreative, ganzheitliche Lösungen entwickeln. Sie zeigen flexible Denkweisen auf, die nicht nur technische Herausforderungen meistern, sondern auch die ethischen, sozialen und unternehmerischen Aspekte der Technologie verstehen und gestalten.

Spezialisierung mit Flexibilität ausbalancieren

Wie wir bereits angeschnitten haben, geht es bei der Spezialisierung in der modernen Arbeitswelt mit KI nicht nur um tiefgehendes technisches Wissen, sondern auch die Bedeutung des spezifischen Branchenwissens. Spezialist:innen, die sich in einer Branche auskennen, sind außerordentlich wertvoll. Dabei nicht nur für die Industrie, sondern auch für sich selbst.

Wettbewerbsvorteil Branchenverständnis: In komplexen Feldern wie der Finanztechnologie, der Biomedizin oder der erneuerbaren Energien kommen Spezialist:innen nicht um branchenspezifische Kenntnisse herum. Dieses vertiefte Wissen ermöglicht es ihnen, Lösungen zu entwickeln, die nicht nur technisch machbar, sondern auch kommerziell tragfähig sind. Oder generell imstande sind neue Lösungen zu schaffen – eine Fähigkeit, die eher Generalist:innen zugesprochen wird durch ihre erweiterte Weltsicht.

Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Auch wenn Spezialisierung bedeutet, Expertise in einem abgesteckten Bereich zu sammeln, erfordert der heutige schnelllebige Markt eine gewisse Flexibilität. Spezialist:innen müssen ihr Fachwissen in neuen und sich entwickelnden Kontexten anwenden können. Auch hier bedeutet es, sich mit angrenzenden Technologien und Methoden vertraut zu machen oder interdisziplinäre Projekte zu leiten.

Integration von Technologie und Branchenwissen: In vielen Industrien ermöglicht die Integration von fortschrittlicher Technologie mit branchenspezifischem Wissen Unternehmen, (führende) Innovationen zu entwickeln. Beispielsweise nutzen Spezialist:innen im Gesundheitswesen KI, um personalisierte Therapieansätze zu entwickeln, die auf spezifischen medizinischen Daten und klinischen Studien basieren.

(Abb. 1: T-Typ, engl. T-Shaped Profile, Karrierebibel)

Unternehmen sind gut beraten, ein Umfeld zu schaffen, das nicht nur die vertikale, sondern auch die horizontale Entwicklung von Fähigkeiten fördert (siehe Abb. 1). Dies bedeutet, dass Spezialist:innen ermutigt werden sollten, über den Tellerrand hinaus zu blicken und Fähigkeiten zu entwickeln, die über ihr unmittelbares Fachgebiet hinausgehen. Solche Fähigkeiten umfassen Projektmanagement, Führungsqualitäten, interdisziplinäres Arbeiten und Vertriebswissen. All diese Dinge tragen zur Schaffung eines resilienten und anpassungsfähigen Teams oder auch zu “High Performance-Teams” bei.

Die Balance zwischen tiefem Fachwissen und erweitertem Branchenverständnis wird in zukünftigen Rollen das Maß aller Dinge sein. Viel mehr noch: In unserer VUCA-Welt bedeuten diese kombinierten Fähigkeiten häufig den Unterschied zwischen Fortschritt und Stillstand.

Querdenken in der KI-Spezialisierung

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Zukünftig wird es zu einer Notwendigkeit, disziplinübergreifende Perspektiven in der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz zu integrieren. Wie im 2015 Forbes-Artikel "The One Trait That Elon Musk, Benjamin Franklin, and Marie Curie Have In Common" hervorgehoben, ist das Querdenken – also die Fähigkeit, Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen zu kombinieren und anzuwenden – ein grundlegender Faktor für bahnbrechende Innovationen und Fortschritte. Das wussten wir im Grunde schon lange, aber im Zuge der künstlichen Intelligenz wird es erneut äußerst offensichtlich.

Interdisziplinäres Wissen als Innovationsmotor

Historische Innovatoren wie Elon Musk, Benjamin Franklin und Marie Curie haben gezeigt, dass der Schlüssel zu außergewöhnlichen Durchbrüchen oft in der Fähigkeit liegt, verschiedene Wissensbereiche miteinander zu verknüpfen. Das gleiche gilt auch für die Kunst. Für KI-Spezialist:innen bedeutet dies, dass ein tiefes Verständnis für andere Felder wie Ethik, Biologie oder Energie fundamental ist, um innovative Lösungen zu entwickeln, die über herkömmliche Ansätze hinausgehen.

Von Nebeneffekten und Epiphänomen

Durch die Anwendung interdisziplinären Wissens können KI-Entwickler neue Ansätze in der Gestaltung von Algorithmen und Problemlösung finden. Zum Beispiel kann das Verständnis für neurologische Prozesse helfen, effektivere neuronale Netzwerke zu entwerfen, während philosophische Überlegungen wichtige ethische Richtlinien für die Anwendung von KI bieten können.

Strategien zur Förderung von Querdenken

Unternehmen können Querdenken fördern, indem sie für eine vielfältige Zusammensetzung ihrer Teams sorgen und in Weiterbildungsprogramme investieren. Interdisziplinäre Workshops und Projekte tragen dazu bei, den kreativen Austausch und die Innovationsfähigkeit zu steigern. Auch hier möchte ich erneut auf unseren lesenswerten Artikel “Was ist das Geheimnis von “High Performance”-Teams in der IT?” hinweisen.

“Expert Generalist”

Gegebenenfalls ist es auch Zeit für ein neues Modell – Orit Gadiesh, Vorsitzende vom Beratungsunternehmen Bain & Company, bezeichnet es als „Expert-Generalist“ und erklärt es so:

„Ein Expert Generalist ist jemand, der die Fähigkeit und Neugier besitzt, Fachwissen in vielen verschiedenen Disziplinen, Branchen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Ländern und Themen zu sammeln und zu beherrschen und dann:

  1. Muster zu erkennen und die Punkte über mehrere Bereiche hinweg zu verbinden.
  2. Tiefer zu bohren, um sich zu fokussieren und das Denken zu perfektionieren.“
(Abb. 2: The Expert Generalist, Forbes/IBM)

Fazit

Sowohl Spezialist:innen als auch Generalist:innen können ihre Stärken und Schwächen in einem KI-Universum ausspielen. Doch besonders gute Karten haben Spezialist:innen, die die Schnittstellen zu angrenzenden Bereichen kennen oder ihre Expertise an den Grenzen oder einen weiteren relevanten Bereich ausweiten – zum Beispiel mit einer dedizierten Branchenkenntnis.

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